27.
Simon erwachte von einem stechenden Schmerz, den die Wunde in seiner Hüfte ausstrahlte. Er versuchte eine Lage zu finden, in der es weniger wehtat. Als er sich bewegte, seufzte Julia leise und blinzelte ihn verschlafen an. Aber sie wurde nicht wach.
Durch die staubigen Fenster der Hütte drangen die ersten Sonnenstrahlen. Tommy würde bald aufwachen, lange konnte es nicht mehr dauern. Simon betrachtete Julias schlafendes Gesicht und die Erkenntnis, dass alles vorbei war, traf ihn wie ein Schlag ins Genick.
Gestern noch hatten ihn die Schmerzen von den Dingen abgelenkt, an die er nicht denken wollte. Doch über Nacht war das Stechen in seiner Seite einem dumpfen Pochen gewichen. Der Tag erwachte und alles würde unweigerlich seinen Lauf nehmen. Er musste seine Wünsche, seine Sehnsüchte und seine Hoffnungen begraben. Er musste vernünftig sein. Das war er Julia, Tommy und den beiden Alten schuldig. Diese Menschen waren ihm wichtig und Simon wollte nichts mehr falsch machen.
Auch wenn Julia im Augenblick noch schlafend neben ihm lag, ihr Körper warm an seinem – alles, was jetzt kam, würde sie weiter und weiter von ihm entfernen. Deutschland war so weit weg für ihn, sie hätte genauso gut auf einem anderen Planeten leben können.
Simon gab einen traurigen Laut von sich und rückte ein Stück näher an Julia heran. Er wollte das Gefühl der Nähe bewahren, wenigstens noch für ein paar Minuten.
Aber dann begann Tommy in seinem Bett zu rumoren und Julia wachte auf. Sie lächelte, als sie sah, wie nah Simon ihr war.
»Guten Morgen«, sagte er. »Geht es dir gut?«
»Hi«, flüsterte sie. »Geht’s dir denn gut?«
»Ja.« Weil du bei mir bist.
Tommy setzte sich auf in seinem Bett, begann zu schaukeln und ließ ein forderndes »Ba-ba-ba« hören. Er hatte Hunger.
Simon schloss kurz die Augen und seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen und das zu tun, was getan werden musste.
Nachdem Tommy gewindelt und gefüttert war, setzten sie ihn auf den Boden, wo er sich rutschend hin-und herbewegte und tastend das unbekannte Terrain erkundete.
Er schien beinahe neugierig zu sein und war verblüffend friedlich. Simon feuerte den Holzherd an und sie bereiteten ein Frühstück aus gebratenen Eiern und Speck, Tee und Orangensaft. Als sie gegessen hatten, begann Tommy unruhig zu werden.
»Ich werde mal versuchen, ihn in den Jeep zu setzen«, schlug Simon vor. »Vielleicht funktioniert es.«
Er trug Tommy nach draußen und setze ihn auf den Beifahrersitz des Jeeps. Dann schloss er die Tür. Julia und er standen neben dem Auto und beobachteten, wie Tommy reagieren würde. Er merkte natürlich, dass er nicht in seinem geliebten Truck saß, aber unerwarteter Weise schien er sich mit dem Ersatz zufriedenzugeben.
Julia griff nach Simons Hand. »Und was jetzt?«
Er zog sie zur Bank vor der Hütte. »Wir müssen reden, okay?«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und ließen ihre Blicke über das Hochtal schweifen. Saftig grüne Wiesen, hier und da noch Schneefelder und im Hintergrund die schroffen, schneebedeckten Gipfel der Ruby Mountains. Irgendwo in einem dieser Täler war der Vertrag von Ruby Valley unterzeichnet worden. Diese Tatsache erinnerte Julia daran, dass sie auch nach Nevada gekommen war, um herauszufinden, was das bedeutet: Indianerin zu sein. Eine klare Antwort darauf hatte sie noch nicht gefunden, aber sie hatte das Gefühl, der Sache ein großes Stück näher gekommen zu sein.
Die Morgenluft war kühl und aus dem heißen Becken vor ihnen stiegen gespenstische Nebelschwaden. Überwältigt von der stillen Schönheit, die sie umgab, wurde Julia das Herz schwer. Sie konnten nicht länger hier bleiben, das wusste sie.
Simon holte tief Luft. »Wir werden nach Salt Lake City fahren und das Krankenhaus suchen, in das sie deinen Großvater gebracht haben. Du wirst mit deiner Mutter telefonieren und sie bitten, dich dort abzuholen.« Er schluckte, es fiel ihm sichtlich schwer weiterzusprechen. »Ich werde Tommy an Ada übergeben und . . .« Wieder schwieg er.
Julia wartete, aber es kam nichts.
»Und was dann? Was wird aus dir?«
Simon hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Dominic wohnt am Rand von Salt Lake. Ich hoffe, dass er zu Hause ist, dann kann ich meine Sachen bei ihm unterstellen.«
»Ich wollte nicht wissen, was aus deinen Sachen wird, Simon. Was wirst du tun?«
»Ich muss mir was suchen, wo ich bleiben kann.«
Die Hilflosigkeit, die in seiner Stimme war, machte Julia Angst. »Du willst wirklich nicht zurück auf die Ranch gehen?«, fragte sie. »Auch nicht, wenn meine Großeltern dich brauchen?«
»Für mich ist es besser, nichts zu wollen.« Simon nahm ihre Hände. »Ich kann nicht zurückgehen, Julia. Nicht mehr nach allem, was geschehen ist. Jason hasst mich. Eines Tages wird er seine Drohung wahr machen.«
»Aber wenn wir Grandma erzählen, dass er auf dich geschossen hat, dann wird sie ihn bei der Polizei anzeigen und er kommt ins Gefängnis.«
»Julia«, sagte Simon eindringlich, »werd endlich wach. Deine Großmutter wird Jason nicht anzeigen. Er ist ihr Enkelsohn.«
»Dann wird Grandpa es tun. Er kann nicht wollen, dass du weggehst. Er mag dich.«
Simon blickte zu Boden. »Wir wissen ja nicht einmal, ob dein Großvater wieder auf die Beine kommt. Seine Verletzung war so schwer, dass . . .«
»Ich weiß, dass er wieder gesund wird«, unterbrach sie ihn.
»Vielleicht. Aber auch dein Großvater wird Jason nicht der Polizei ausliefern, weil er nur zu gut weiß, wie es im Gefängnis ist. Er hat mir erzählt, wie sie ihn geschlagen haben, bis er fast taub war. Boyd wird sein eigen Fleisch und Blut nicht in die Hölle schicken.«
»Aber die Ranch, das ist dein Zuhause«, wollte sie sagen, doch dann wurde ihr ernüchternd klar, dass das nicht mehr stimmte. Die Ranch war kein sicherer Ort mehr für Simon.
Sie schluckte gegen ihre Tränen an und verlor den Kampf. »Dann müssen wir jetzt packen?« Julia erhob sich, aber Simon hielt sie fest.
»Ich möchte dich um etwas bitten«, sagte er.
»Und worum?«
»Um einen Tag.«
»Einen Tag?« Verwundert blickte sie ihn an.
»Lass uns einfach noch einen Tag in der Hütte bleiben. Wir können nichts ändern, Julia. Was geschehen ist, ist geschehen, und was passieren wird, wird sowieso passieren. Aber wir können noch diesen einen Tag für uns haben. Natürlich nur, wenn du es auch wirklich willst«, fügte er hinzu. »Morgen früh brechen wir dann nach Salt Lake City auf.«
In Julia kämpfte es. Sie wusste, dass Simon recht hatte. Ihre Mutter würde außer sich sein. Aber wie konnte sie Simon diese Bitte abschlagen? Seinen verzweifelten Versuch, das Unaufhaltsame aufzuhalten. Wo sie doch am liebsten für immer mit ihm hier in den Bergen geblieben wäre.
»Gut«, sagte sie. »Meine Ma wird mich zwar umbringen dafür, aber das ist es mir wert.«
Da sie sich wegen Tommy nicht weit von der Hütte entfernen konnten, setzten sie sich an den Rand des warmen Beckens, tauschten Küsse und redeten. Julia stellte behutsame Fragen und Simon offenbarte sich, wie er es noch nie zuvor einem anderen Menschen gegenüber getan hatte. Er wunderte sich selbst, wie mühelos ihm all diese Dinge über die Lippen kamen, die er so tief aus seinem Inneren hervorholen musste.
Simon erzählte Julia, dass er mal einen ganzen Sommer über in einem Schafstall in den Bergen gehaust hatte wie ein halb gezähmtes Tier. Die Lebensweise der Menschen hatte ihn abgestoßen, er hatte nicht mehr nach den Regeln der anderen leben wollen.
»Ich hatte genug von ihren unbedachten Worten, die so glatt von ihren Lippen kamen. Worte, die verdreht, gebrochen und in Lügen verwandelt wurden – je nachdem, wie es ihnen beliebte. Worte voller Wut.«
Dort, wo Liebe und Vertrauen sitzen sollten, war lange Zeit nur eine leere Stelle gewesen, ein schwarzes Loch. Simon wollte niemanden gern haben, weil er Angst hatte, man könnte ihm wehtun, wenn er sich nicht so verhielt, wie es von ihm erwartet wurde.
»Aber du bist zurückgekommen«, stellte Julia fest.
»Ja. Das Experiment ist gescheitert. Ich musste akzeptieren, dass ich ein Teil von allem bin.«
Sie lächelte. »Ich bin so froh, dass du das akzeptiert hast. Sonst würde ich jetzt in Kalifornien am Strand sitzen und hätte dich niemals kennengelernt.«
Um die Mittagszeit aßen sie einen Happen und Simon fütterte Tommy, der sich anschließend wieder ohne Murren in den Jeep setzen ließ. Es war erstaunlich, wie gut er den Ortswechsel verkraftete, und Simon war froh über den Frieden, den der Junge ihnen gönnte. In der warmen Nachmittagssonne setzten sie sich in das Becken und genossen ein Bad im warmen Quellwasser. Simon blieb nur kurz drin, denn auf seiner Wunde hatte sich Schorf gebildet und er wollte nicht, dass sie zu sehr aufweichte. Er ließ sich in der Sonne trocknen und Julia wiederholte später die Prozedur mit der Jodlö
sung, die seine Haut rot färbte. Dann erneuerte sie den Wundverband. Es tat immer noch weh, aber die Wunde hatte sich nicht entzündet und begann zu heilen.
Als Julia fertig war und einen Augenblick lang zufrieden ihr Werk betrachtete, nahm Simon ihr die Rolle mit dem Heftpflaster aus der Hand und legte sie ins Gras.
»Kommst du mit ins Haus?«, fragte er leise.
Simon merkte, dass sie erst nicht verstand, was er wollte. Aber dann musste Julia es in seinen Augen gesehen haben, denn ihr schoss das Blut ins Gesicht und sie senkte den Blick.
Kam das wirklich so überraschend für sie? Er hatte schon den ganzen Tag an nichts anderes denken können. Ihre Nähe, jede zufällige Berührung, brachten ihn bald um den Verstand. Und der Gedanke, sie zu verlieren, quälte ihn wie ein Fieber.
»Wenn du nicht willst, dann kann ich es verstehen«, stammelte er. Was, verdammt noch mal, redest du da, Simon? Er wollte es so sehr. Sein Verlangen schmerzte mehr als seine Verletzung. Er wollte sie noch einmal spüren und der Hoffnung Nahrung geben, dass es so etwas wie eine Zukunft für sie gab.
Da erhob Julia sich und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Sie zog ihn hinter sich her und stieg mit festen Schritten zur Hütte hinauf, während Simon fürchtete, seine Beine würden ihm jeden Moment den Gehorsam verweigern.
Obwohl die langen Schatten des Abschieds sie längst erreicht hatten, kehrte die Hoffnung an diesem Nachmittag zu ihnen zurück. Julia schwor Simon, dass sie nie mit einem anderen zusammen sein würde, und er wollte ihr so gerne glauben.
Als sie wieder ruhig waren, löste er sich von ihr und rollte sich auf den Bauch. Er stützte das Kinn auf die Faust und sah Julia an.
»Was denkst du?«, fragte sie ihn.
»Gestern, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, da hast du gesagt, ich hätte dir im Traum von dem roten Stein erzählt.«
»Stimmt. Du hast gesagt, der Stein wäre ein Symbol für das, was mit uns beiden passiert.«
Wie kann sie das wissen?, dachte Simon. Irgendetwas musste zwischen ihnen geschehen sein. Etwas, das jenseits der Worte lag.
»Die Steine, Simon... glaubst du an ihre Geschichten?«, fragte Julia.
»Es gibt nicht viel, woran ich glauben kann«, antwortete er. »Aber ich kann hören, was die Steine erzählen. Und wenn du dir ein wenig Mühe gibst, dann hörst du es auch.«
Am nächsten Morgen packten sie nach dem Frühstück ihre Sachen zusammen und verließen die Berge. Auch dieser Tag begann strahlend sonnig, kein Wölkchen stand am blauen Himmel.
Die Interstate 80 führte sie geradewegs gen Osten und mit jedem Kilometer schien es heißer zu werden. Zum Glück hatte der Jeep eine funktionierende Klimaanlage, sonst wären sie im Inneren des Autos geschmolzen.
Simon hatte Tommy versprochen, dass sie zu seiner Granny fahren würden und der Junge schien das verstanden zu haben. Er hockte friedlich auf dem Rücksitz, sodass Julia während der langen Fahrt neben Simon sitzen konnte.
Ein Schwarm von Gedanken war in Julias Kopf auf Reisen, mal zurück zu ihren ersten Tagen auf der Ranch, mal voraus zu dem, was sie in Salt Lake City erwarten würde. Sie dachte an den nahenden Abschied von Simon, spürte den dunklen Schmerz der Trennung körperlich und atmete ihn weg, indem sie mit ihren Gedanken noch weiter vorausflog. Zum nächsten Wiedersehen, das irgendwo in der Zukunft auf sie wartete.
Gegen Mittag erreichten sie Wendover, den ersten Ort nach der Staatsgrenze zu Utah. An einer Tankstelle füllte Simon den Sprit auf, sie holten sich etwas zu essen und legten wenig später auf einem großen Parkplatz eine Pause ein.
Anschließend ging es auf dem schnurgeraden Highway weiter. Schon seit einer Weile fuhren sie durch die große Salzwüste. Glimmernde Helle zu beiden Seiten der Straße. Auf der linken bildeten blaue Berge den Horizont. Immer wieder schimmerte ein See auf der weißen Fläche. Eine Fata Morgana nach der anderen. Glitzernde Illusionen in der ausgedörrten Ebene.
Nach weiteren drei Stunden tauchte linker Hand eine weite, silbern gleißende Fläche auf. Diesmal war es keine Fata Morgana.
»Der Große Salzsee«, sagte Simon.
»Warst du schon einmal hier?«
»Ja, einmal.«
»Das klingt nicht begeistert.«
»Salt Lake ist eine merkwürdige Stadt«, sagte er. »So sauber wie kaum eine andere, aber auch seltsam steril. Jemand wie ich wird dort von allen angestarrt.«
Julia lächelte. Sie wusste, wie sehr Simon es hasste, angestarrt zu werden.
Die Gegend wurde wieder fruchtbarer und die Besiedlung dichter. Ganz offensichtlich näherten sie sich Salt Lake City. An der Tankstelle hatte Simon einen Stadtplan gekauft und ausfindig gemacht, in welchem Stadtteil das Krankenhaus stand, in das der alte Mann mit seiner Kopfverletzung gebracht worden war.
Die Metropole lag in einem Tal am Fuße bewachsener Berge, die sich dunkel über der Stadt erhoben – den Wasatch Mountains. Ein großes, im Renaissance-Stil errichtetes Gebäude mit grün schimmernder Patina auf der Kuppel thronte gut sichtbar auf einem Hügel. Später erfuhr Julia, dass es das Kapitol war, der Oberste Gerichtshof des Staates Utah.
Den Stadtplan auf dem Schoß, versuchte Julia, Simon den Weg zu zeigen, doch es war schwierig für sie, sich zurechtzufinden. Sie fuhren durch einen Bezirk, in dem sich ein Mormonentempel an den anderen reihte. Julia kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Moderne Hochhäuser aus Stahl und Glas neben Backsteinbauten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Riesige Grünanlagen mit Blumen und imposanten Springbrunnen. Es war zu viel, Julia brummte der Kopf.
Simon kämpfte sich fluchend durch den Nachmittagsverkehr und irgendwann entdeckten sie es endlich, das IS-Center, das Chirurgische Zentrum von Salt Lake City. Es war ein riesiger moderner Gebäudekomplex zwischen weitläufigen Parkanlagen. Dank der guten Ausschilderung fanden sie schnell bis vor das Trauma-Zentrum, ein weißes, sechsstöckiges Gebäude. Simon lenkte den Jeep auf den Parkplatz und stellte den Motor ab.
Als sie aus dem Wagen stiegen, erwischte sie die Hitze wie eine schwere Wand. Simon stöhnte. Er hatte Kopfschmerzen und schon während der Fahrt durch die Stadt hatte er gerochen, dass Tommys Hosen voll waren. So konnten sie ihn nicht mit ins Krankenhaus nehmen. Zuerst musste er dem Jungen auf dem Rücksitz die Windeln wechseln.
Anschließend nahm er Tommy huckepack, schloss den Jeep ab und nickte Julia zu. Gepeinigt von Schmerzen, lagen Simons Nerven allmählich blank. Nach der langen, eintönigen Fahrt durch die flimmernde Salzwüste hatte ihm der ungewohnte Stadtverkehr den Rest gegeben. Julia hatte wie gebannt aus dem Fenster gesehen statt auf die Karte und sie waren eine gute Stunde lang umhergeirrt, bevor sie den Weg zum Krankenhaus endlich gefunden hatten.
Tommy klammerte sich an Simons Hals wie ein Äffchen. Er hatte Angst. Als der Junge ihm unbeabsichtigt mit dem Bein in die verletzte Seite stieß, ging Simon beinahe vor Schmerz in die Knie. Julia bemerkte es nicht. Sie schützte ihre Augen vor der gleißenden Sonne und strebte geradewegs auf den Eingang des Krankenhauses zu.
In der Eingangshalle war es angenehm kühl und Simon entspannte sich ein wenig. Überall standen riesige Grünpflanzen und bequeme Ledersessel. Die Stimmen der Leute, die sich in der Halle aufhielten, vernahm er nur gedämpft.
»Warte mit Tommy hier«, sagte Julia zu ihm. »Ich versuche herauszufinden, wo Grandpa ist.«
Erleichtert ließ Simon Tommy von seinem Rücken gleiten und setzte sich in einen der Sessel. Ihm wurde bewusst, dass von verschiedenen Seiten neugierige Blicke auf ihm und dem Jungen ruhten, der wie immer nur mit seinen Shorts bekleidet war.
Simon hatte am Morgen seine besten Hosen angezogen, eine nagelneue Jeans ohne Löcher. Aber dass er saubere Sachen trug, konnte Tommys aufsehenerregenden Anblick nicht wettmachen.
Wie er es verabscheute, so angestarrt zu werden. Wie unerträglich er die Stadt fand, in der jemand wie er sich immer schmutzig fühlen würde. Er fragte sich, wie Dominic hier leben konnte. Und er wusste, dass er nicht länger hierbleiben würde, als es unbedingt notwendig war.
Endlich kam Julia zurück.
»Zweiter Stock, Chirurgie 5«, sagte sie. »Sie sagen, er liegt nicht mehr auf der Intensivstation.«
Ihre Augen leuchteten in einem dunklen Türkis, der Farbe, die Simon besonders schön und verwirrend fand.
»Na, das sind doch endlich mal gute Nachrichten.«
Als sie die Station 5 betraten, stellte sich ihnen eine energische Oberschwester in den Weg. Sie überragte Simon um einen ganzen Kopf, trug ein weißes Häubchen und hatte Hände so groß wie Bärenpranken.
»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte sie streng. Ein Schildchen auf ihrem Kittel wies sie als Oberschwester Lori Tanner aus.
»Wir möchten zu Mr Boyd Temoke«, antwortete Julia.
»Mr Temoke ist gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen und kann keine Aufregung gebrauchen«, bemerkte die Schwester mit einem abschätzenden Seitenblick auf Simon und Tommy.
Simon glaubte, sich verhört zu haben. Die Schmerzen in seinem Kopf hatten nicht nachgelassen und die in seiner Hüfte auch nicht. Er war vollkommen erledigt und spürte, wie er die Beherrschung verlor. »A-ber wir k-k-k . . . fuck«, fluchte er.
Die Schwester bekam große Augen und riss empört den Mund auf.
Simon wollte schon resigniert aufgeben, als er sah, wie Julia beide Hände in die Hüften stemmte und tief Luft holte.
»Hören Sie, Mrs Tanner«, sagte sie laut. »Boyd Temoke ist mein Großvater und der Großvater von Tommy. Wir sind meilenweit gefahren, um zu sehen, wie es ihm geht.«
»Ein Anruf hätte genügt«, sagte die Schwester spitz.
Julia schüttelte den Kopf. »Wir werden nicht von der Stelle weichen, bis Sie uns zu meinem Großvater lassen. Und wenn Sie weiterhin versuchen, uns davon abzuhalten, werden wir Tommy dazu bringen, dass er das ganze Krankenhaus zusammenbrüllt. Das kann er gut, glauben Sie mir.«
Wie um Julias Drohung zu unterstreichen, kam ein tiefes, grollendes Geräusch aus Tommys Kehle. Aber das schien die Stationsschwester überhaupt nicht zu beeindrucken.
»Und wer ist der junge Mann mit den unflätigen Ausdrücken?«, fragte sie brüskiert, während sie Simon von oben bis unten musterte.
Julia wollte antworten, als Tommy plötzlich einen herzzerreißenden, fast tierischen Laut ausstieß. Die Schwester fuhr erschrocken einen Schritt zurück. Simon ächzte, denn Tommy klammerte sich jetzt wütend an ihn und nahm ihm die Luft zum Atmen.
In diesem Augenblick öffnete sich weit hinten eine Tür und Ada erschien auf dem Gang.
»Tommy?«, rief sie mit ihrer durchdringenden Stimme.
Der Junge brach in ein wahres Freudengeheul aus. Aus Begeisterung, die Stimme seiner Granny zu hören, zappelte er wild auf Simons Rücken herum und rammte ihm erneut das Knie in die Seite.
Der jähe Schmerz blendete Simon und schoss von der Hüfte aus in jede Faser seines Körpers. Dann wurde es schwarz um ihn herum und er ging zusammen mit Tommy zu Boden.